Modelle im Umgang mit Nichtwissen
A) Modelle im Umgang mit wissenschaftlichem Nichtwissen
Wissenschaft erzeugt einen Raum des wissenschaftlichen Nichtwissens:
- WAS: Die Beharrungstendenzen von etablierten Wissenssystemen richten ihre Aufmerksamkeit auf passende Fragestellungen und Erscheinungen und belässt Unpassendes und nicht Wahrnehmbares im „Schatten des Wissens“.
- WO: Im Labor gewonnenes Wissen kann in der freien Natur zu unbekannten Wechselwirkungen führen. (Anbau von genmanipulierten Pflanzen)
- WANN: Die Auswirkungen von langen Wirkzeiten sind vorab nicht überprüfbar. (Atommüll)
Es werden nun sechs Modelle im Umgang mit wissenschaftlichem Nichtwissen vorgestellt. Einige Modelle ergänzen sich, andere widersprechen sich.
1. Das Wissens-Modell
Das Expertenmodell der konsensuellen Präzisierung des Nichtwissens
Bei der Suche nach KONSENS zu einem Thema sollen alle Perspektiven der Experten auch das Nichtwissen aufdecken.
Nachteile:
- Konsensuelles Wissen und Urteilen basieren auf gemeinsamen normativen Vorannahmen. => Gut für bekanntes Nichtwissen, schlecht für unbekanntes Nichtwissen
- Nur das bekannte oder vermutete Nichtwissen der Experten wird aufgedeckt. => unbekanntes Nichtwissen bleibt im „Schatten“
- Grenzen des Expertenmodels werden als unvermeidliches Restrisiko heruntergespielt, die man akzeptieren müsste.
2. Das Eigeninteresse-Modell
Schuldensunabhängige Gefährdungshaftung soll Gefahren aus Nichtwissen reduzieren
Der vom "Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung" (WBGU) schlägt einen haftungsrechtlich gestützten Umgang mit Nichtwissen vor. Der Beirat sieht darin eine tragfähige und produktive Strategie zur Verringerung und Bewältigung unbekannter Risiken. Das Prinzip der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung ist im deutschen Umwelthaftungsgesetz verankert z.B. im Gentechnikgesetz und Arzneimittelgesetz. Es bejaht eine Haftung von negativen Folgen auch dann, wenn diese ohne Verschulden des Betreibers einer Anlage, eines Arzneimittel-Herstellers, etc. zustande gekommen sind. Dabei wird davon ausgegangen, dass die DEZENTRALEPRÄVENTIVWIRKUNG des Haftungsrechtes größer ist als staatliche Herangehensweisen.
Ziele:
- Verbesserung der Rechtsstellung der (potentiell) Geschädigten
- Anreiz zur präventiven Verringerung von Umwelt- oder Gesundheitsgefährdungen
- Das Prinzip der verschuldensunabhängigen Haftung soll ein eigenständiges Interesse an der Entdeckung bisher unbekannter Schadensquellen schaffen. Vor allem werden Versicherungen als Impulsgeber gesehen, da das Geschäftsmodell von Versicherungen auf potentiellen Schadensquellen aufbaut. Durch die angebotenen Versicherungen nimmt es Einzug in das Bewusstsein der Betreiber von entsprechenden Anlagen.
Nachteile:
Überschätzung der Präventivwirkung einer Gefährdungshaftung zur Antizipation unbekannter Folgeeffekte, denn
- widersprechende Erkenntnisse werden gerne übersehen. Es werden die Erkenntnisse bevorzugt, die in das eigene Weltbild passen.
- unbekanntes Nichtwissen bleibt unberücksichtigt (Contergan galt als sicher, FCKW als ungefährlich).
- Es gibt eine Tendenz der Selbstüberschätzung der Betreiber (Montsanto)
3. Das Teilnehmer-Modell
Experten UND Laien, Bürger und lokal Betroffene sollen Nichtwissen aufdecken (Francois Edwald)
Nachdem die Experten den „Schatten“ ihres Wissens nicht sehen, sind die Bedenken von Laien, Bürgern und lokal Betroffenen in der Entscheidungsfindung mit zu berücksichtigen. Ziel ist es den Wahrnehmungshorizont zu maximieren in der SUCHE NACH VERUNSICHERUNG. Die Entdeckung der Probleme mit dem Schlafmittel Contergan fing mit den Betroffenen an und nicht in der Wissenschaft. Anstatt sich auf eine wissenschaftliche, rationale Prävention zu verlassen, sollen alle Bedenken gesammelt werden und auf das Vorsorge-Prinzip umgestellt werden. Prävention basiert auf der Gewissheit über die Folgen einer Handlung. Bei dem Vorsorge-Prinzip können auch unbekannte Ereignisse abgefangen werden.
Nachteile:
- Weiterhin ist nicht ausgeschlossen, dass nichts Relevantes ausgeschlossen wurde - Logik der doppelten Negation.
- Es ist ungeklärt, welche Kriterien bei der Prioritätensetzung der gesammelten Hypothesen verwendet werden sollen.
- Es kann zu einer Lähmung der Innovation führen, da die Bedenken größer werden können als der Mut, Neues auszuprobieren.
4. Das Test-Modell
Die Falsifizierbarkeit von Entscheidungen unter Nichtwissen (David Collingridge (Karl Popper))
Bei Falsifizierbarkeit von Entscheidungen unter Nichtwissen soll ein Entscheidungspunkt durch einen PROZESS mit gezieltem Monitoring der Entscheidungsfolgen ersetzt werden. Dabei sollen die Entscheidungen unter Nichtwissen:
- Falsifizierbar sein => gezielte Folgenbeobachtung
- "rechtzeitig" korrigierbar sein
- sich auf leicht steuerbare Systeme beziehen
- zukünftige Optionen offen halten
Durch diese Herangehensweise wird bereits vor der Entscheidung systematisch auf die gezielte Beobachtung der durch sie möglichen ausgelösten Effekte gelenkt.
Probleme:
- Mögliche kausale Verbindungen sind nicht bekannt und damit nicht messbar.
- Kausale Verbindungen, die erst nach langer Laufzeit erkennbar werden, sind dann nur bedingt umkehrbar.
5. Das Lern-Modell
Der Umgang mit Nichtwissen als rekursiver Lernprozess in Realexperimenten (Wolfgang Krohn, Matthias Groß, Holger Hoffmann-Riem)
Beim Lern-Modelll wird, anstatt eine Entscheidung zu falsifizieren, anstatt nicht bekanntes Nichtwissen als Ausgangsbasis zu verwenden, ein kontinuierlicher rekursiver Lernprozess verwendet. Beim REKURSIVEN LERNPROZESS soll im Laufe des Experiments unbekanntes Nichtwissen in bekanntes Nichtwissen und Wissen überführt werden. Realexperimente sind der Mittelweg zwischen leichtfertigem Vertrauen in Sicherheitsversprechen einerseits und der Absage an Veränderungen andererseits.
Nachteile:
- Aus Sicherheit sind Realexperimente vorrangig lokal begrenzt.
- Realexperimente können aufwändig und teuer sein.
- Es besteht die Gefahr die Beobachtbarkeit der Handlungsfolgen zu überschätzen.
- Auch die zeitliche Stabilität von unbekanntem Nichtwissen kann unterschätzt werden.
6. Das Entscheidungshintergrund-Modell
Die Anerkennung unbekannten Nichtwissens (M. Schering)
Die Chemikalienpolitik hat es mit unbekanntem Nichtwissen zu tun und erkennt es als Faktum an, dass die Chemikalienbewertung sich nicht auf Ursache und Wirkungswissen stützen kann. Das von der EU gestartete Programm zur Überprüfung der rund 100.000 Altstoffe würde noch Jahrhunderte dauern. Was tun? Die Einführung von NICHTWISSEN-INDIKATOREN ZWEITER ORDNUNG ersetzt die klassische Risikoabschätzung. Es wird das Gefahrenpotential von chemischen Impulsen bewertet. Das Gefahrenpotential eines chemischen Impulses ist umso höher, je weiter dieser räumlich verteilt ist und je länger er zeitlich präsent ist. Der Verzicht auf die Nutzung und Freisetzung bestimmter Substanzen begründet sich dann aus einem hohen Gefahrenpotential, jedoch ohne dass die konkreten Wirkungsmechanismen bekannt wären.
Nachteil:
- Bewertung nur aufgrund eines hohen generellen Gefährdungspotentials ist starken politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Widerständen ausgesetzt.
Fazit
Keine der sechs vorgestellten Modelle stellt die definitive Lösung dar. Aus der Perspektive einer Soziologie des wissenschaftlichen Nichtwissens bedarf es:
- Einer Transformation von einem Risikodiskurs zu einer nachträglichen Beobachtung von Handlungs- und Entscheidungskonsequenzen; kombiniert mit einer Systematik für rechtzeitiges Gegensteuern.
- Nichtwissen muss zum politischen und normativen Gegenstand werden, denn bei der Bedingung von Nichtwissen verliert die Wissenschaft die Funktion als normfreie Kontrollinstanz. Kriterien wie richtig/falsch verlieren an Gewicht. Relevanz, Plausibilität, Überprüfbarkeit, soziale Wünsche gewinnen an Bedeutung.
Wissenschaft hat zwei Reaktionsmuster, wie sie mit den Impulsen von außen umgehen kann:
- Sie als unbedeutende Äußerungen von Laien und Unwissenden abtun oder
- als Irritation aufzugreifen und zu verarbeiten.
B) Modelle im Umgang mit Nichtwissen
Wie kann ich mit meinem eigenen Nichtwissen umgehen?
Um diese Modelle auch auf andere Bereiche übertragen zu können, werden diese als Frage formuliert:
Wissens-Modell:
Wer weiß, was ich nicht weiß?
Eigeninteresse-Modell:
Wie kann ich das Eigeninteresse anderer mit gewünschten Ergebnissen verbinden?
Teilnehmer-Modell:
Wie binde ich lokale Experten in meine Prozesse ein?
Das Test-Modell
Wie überprüfe ich kostengünstig, ob meine Annahmen richtig sind?
Das Lern-Modell
Wie lerne ich kostengünstig, was ich wissen muss?
Entscheidungshintergrund-Modell
Welchen Entscheidungshintergrund soll ich für meine Entscheidungen verwenden?