Skizzen verschiedener Sichtweisen
Hier finden Sie die Sammlung von Skizzen verschiedener Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens von PD Dr. Wehling. Bei der systemtheoretischen Perpektive des Nichtwissens, verwende ich ein Gedankenexperiment, um den Zugang zu der Systemtheorie von Niklas Luhmann zu vereinfachen. Für Kenner kommentiere ich das Gedankenexperiment hier.
Durch wahres Wissen wird Nichtwissen weniger (Francis Bacon – Wissen ist Macht)
Vorannahme: Nichtwissen ist fehlendes wahres Wissen. Es gibt wahres Wissen. Vier Gruppen von Idolen halten den menschlichen Geist gefangen – Das Höhlen-Trugbild, Trugbilder des Theaters / der Tradition, Trugbilder der Tribüne / des Marktes, das Trugbild der Gattung =>
Konsequenzen:
Nichtwissen ist selbstverschuldet und damit überwindbar. Nichtwissen wird durch Wissenszunahme weniger. Nichtwissen wird als Noch-Nicht-Wissen verstanden.
Nichtwissen ist im Alltag präsent (Max Weber)
Wer von uns Straßenbahn fährt, hat keine Ahnung, wie diese das macht, sich in Bewegung zu setzen. Das Wissen über die Funktion der Straßenbahn ist nicht notwendig, es reicht aus, mit dem Verhalten rechnen zu können. Wie viel wissen Sie auf der einen Seite über die Bedienung, auf der anderen jedoch über die Funktionsweise von Ihrem Smartphone.
Vertrauen als Brücke zwischen Wissen und Nichtwissen (Georg Simmel)
Vertrauen ersetzt fehlendes Wissen. Diskretion, höfliche Distanz, Anonymisierung, bewusstes Verbergen kann sich positv auf Beziehungen auswirken. Würden Sie bei einem Vorstellungsgespräch alles ungefiltert erzählen? Überlegen Sie sich einmal wie viel Sie von einer Person wissen, die Sie gerade kennenlernen und für vertrauenswürdig halten.
Unvorhergesehene Handlungsfolgen (Robert K. Merton)
Die angestebte Absicht entspricht nicht den erzeugten Effekten. Das kann unter anderem daran liegen, dass
- nicht ausreichendes Wissen der Wirkzusammenhänge vorlag
- Wissen sich als falsch herausgestellt hat
- nur lokale Interessen berücksichtigt wurden, diese aber globale Nebeneffekte haben
- nur kurzfristige Effekte berücksichtigt wurden, diese aber langfristige Auswirkungen haben
Nichtwissen wirkt stabilisierend auf die Gesellschaft (Melvin M. Tumin)
Nichtwissen hat eine stabilisierende Wirkung auf die Gesellschaft:
- Rollen und Positionen werden durch das Nichtwissen der anderen aufrecht erhalten. Wenn ich genauso viel weiß und kann wie mein Arzt, brauche ich ihn nicht mehr.
- Werte und traditionelles Handeln werden durch Unkenntnis von Alternativen stabilisiert.
- Die wechselseitige Unwissenheit der Handlungen der Marktteilnehmer gewährleistet einen fairen Wettbewerb – die “unsichtbare Hand” von Adam Smith.
- Ein Zu-Viel-Wissen über den Vorgesetzten oder Kollegen wird als Gefahr für die sachlich-unpersönliche Pflichterfüllung gesehen.
- Nichtwissen, Unsicherheit und Angst als Motive für Rollenkonformität.
Mein Nichtwissen (Thomas Luckmann)
Mein Nichtwissen ist relativ. Jeder weiß etwas, andere nicht. Jeder hat seine persönliche Erfahrungsgeschichte, die zeitlich, räumlich und sozial begrenzt ist. Wir werden immer wieder überrascht, da die Lebenswelt grundsätzlich undurchsichtig ist. Was ich nicht weiß, kann jemand anders Wissen.
Wann wird Wissen zu meinem Nichtwissen? (Michael Weinstein)
Michael Weinstein untersucht die Faktoren, warum Wissen nicht zu Kenntnis genommen wird. Wissen kann unter anderem durch Verfälschung und Verzerrung fehlinterpretiert werden oder durch Vernachlässigung und Unachtsamkeit nicht wahrgenommen werden.
Keine absolute Gewissheit => “trial and error” (Karl Raimund Popper)
Der Falsifikationismus geht davon aus, dass eine Hypothese niemals bewiesen, aber gegebenenfalls widerlegt werden kann. Damit haben alle Überzeugungen, Meinungen, Hypothesen das Potential, sich irgendwann als Irrtümer herauszustellen und werden durch bessere ersetzt. Ein schwarzer Schwan reicht aus, um die Theorie der weißen Schwäne zu widerlegen.
Wissen erzeugt Beharrungstendenz (Ludwik Fleck)
(Vor-)Wissen ist nach Fleck sozial geprägt, es ermöglicht das Erkennen überhaupt erst, aber es begrenzt es zugleich auch. Denn, passt etwas in ein etabliertes Wissenssystem nicht hinein, wird aktiv dagegen gearbeitet. Die Abstufungen:
- Ein Widerspruch gegen das System erscheint undenkbar.
- Was in das System nicht hineinpasst, bleibt ungesehen oder
- es wird verschwiegen. Selbst wenn es bekannt ist, will man es Nichtwissen oder
- es wird mittels großer Kraftanstrengung dem System nicht widersprechend erklärt.
Nichtwissen klar herausstellen (Robert K. Merton)
Bewusst und ehrlich zu formulieren, was man nicht weiß, öffnet die Möglichkeit dieses Nichtwissen wiederum in Wissen zu verwandeln.
Entscheidungen unter Nichtwissen (David Collingridge)
Die klassische Unterscheidung zwischen “objektiv” kalkulierbarem Risiko und nur noch “subjektiv” abschätzbarer Ungewissheit (Frank Knights), hat David Collingridge durch die Dimension Nichtwissen erweitert. Wenn nicht bekannt ist, was eintreten könnte, gibt es weder eine Diskussion über die Eintrittswahrscheinlichkeit noch über mögliche Schadenshöhen. Bei der Bewertung von Technik- und Umweltfolgen wird vermeintliches Wissen angeboten. Entschieden wird oft - ohne dass es bemerkt wird - unter Nichtwissen, sowie es bei der Einführung von FCKW oder dem Schlafmittel Contergan vorkam und wie es vielleicht bei genmanipulierten Pflanzen vorkommen könnte.
Das Sozialdimension Nichtwissen-Spiel (Michael Smithson)
Nichtwissen wird strategisch eingesetzt. Was wird vor wem, warum, mit welcher Wirkung, geheim gehalten? Der Seitensprung vor der Ehefrau? Welche Akten sind öffentliches Interesse, welche nicht? Wo fängt der private Raum an, wo hört er auf? Wikileaks gegen den US-Geheimdienst CIA.
Wissenschaftliches Nichtwissen öffentlich diskutieren (Alvin Martin Weinberg)
Unlösbare Fragen, in denen wissenschaftliches Nichtwissen aufblitzt, sollen aus der Wissenschaft ausgelagert werden und in einem öffentlichen Diskurs nach politischen, moralischen oder ästhetischen Kriterien entschieden werden. Beispiele:
- biologische Wirkungen niedrig-dosierter radioaktiver Strahlung
- extrem unwahrscheinliche Ereignisse
- Ungewissheit bei neuen Großtechnologien
- das Verhalten einzelner Individuen in der Soziologie vorhersagen
- Wahl der Prioritäten in der Forschung
Lokale Expertise als Antwort auf wissenschaftliches Nichtwissen (Jerome R. Ravetz)
Die Wissenschaft schafft Probleme, die außerhalb der Wissenschaft wahrgenommen werden. Lokale Beobachter können unbekannte Probleme aufdecken. Durch eine reflexive Praxis der Wissenschaft mit lokaler Expertise, Bürgerbewegungen und Medien kann wissenschaftliches Nichtwissen aufgedeckt werden.
Wissenschaft hat sich selbt entzaubert (Wolfgang Bonß)
Es zeigt sich, dass gerade die Wissenschaft Produzent an mehr Nichtwissen ist und so für eine wachsende Unberechenbarkeit der Welt sorgt. Haben genmanipulierte Lebensmittel Nebeneffekte? Ist die Strahlung von Mobilfunk schädlich? Nichtwissen fördert verantwortungsloses Handeln, da negative Folgen unberücksichtigt bleiben. Helmut Wilke spricht sogar von der Krise des Wissens.
Nichtwissen im Spannungsfeld von Moderne und Postmoderne (Zygmunt Baumann)
In der Moderne gibt es nur ein Noch-Nicht-Wissen, das nach und nach in Wissen verwandelt wird – siehe Francis Barcon. Die Macht der Vernunft bändigt Ungewissheit zu Wissen, Ambivalenz zu Eindeutigkeitem und führt zu Kontrolle von Natur und Gesellschaft. Doch die Moderne verflüssigt sich nach und nach.
Im Gegensatz dazu gibt es in der Postmoderne keinen äußeren Maßstab für Richtigkeit. Was der eine für Wissen hält, kann der andere für Nichtwissen halten. Es gibt verschiedene Ordnungsmodelle, unterschiedliche Praktiken und damit Ungewissheit und Mehrdeutigkeiten. Man verabschiedet sich von der Illusion einer lückenlosen Vorhersehbarkeit und Kontrolle der Zukunft. Es gibt nicht mehr nur die eine “richtige” Geschichte, sondern es wird akzeptiert, dass es verschiedene Interpretationen gibt. Manch einer fühlt sich von der Vielfalt überfordert andere sehen darin ihre Freiheit und Chance.
Nichtwissen als Medium reflexiver Modernisierung (Ulrich Beck)
Beim zweckorientierten Vorgehen wäre es wünschenswert, vor Beginn des Handelns alle Nebenfolgen mit einzukalkulieren. Liegt jedoch unbekanntes Nichtwissen vor, bleibt es unberücksichtigt. Dies kann zu zwei Extremfällen führen: Zu unbekümmertem Handeln oder zum Nicht-Handeln. Der Mittelweg besteht aus der fortlaufenden Überprüfung von Zweck und Nebenfolgen, die gegebenenfalls revidiert werden. Zu dieser Überprüfung ist jeder aufgerufen. Fortlaufende Reflexion und Selbstkritik ist nach Ulrich Becks die einzig mögliche Chance, dass wir Irrtümer rechtzeitig aufdecken, bevor uns die Welt um die Ohren fliegt. Übertragen ist dieses Prinzip vergleichbar mit den Agilen Methoden in der Softwareentwicklung.
Die Normalität des Nichtwissens in der Systemtheorie (Niklas Luhmann)
Nachdem sich die Moderne, der Objektivismus, das wahre Wissen “verdünnisiert”, kann der Konstruktivismus erklären, wie wir die Welt erfahren. Es geht nicht mehr darum, “Was” wir beobachten, sondern “Wie” wir beobachten. Startpunkt ist die Welt bzw. das Universum, das nur dann beobachtet werden kann wenn es A) einen Beobachter gibt, der B) eine Seite einer Unterscheidung beobachtet:
A) Beobachter
Einen Beobachter gibt es, wenn ein System zur Umwelt unterschieden wird. Dabei wird die Welt in den Beobachter und seine Umwelt geteilt. Die Summe beider Teile ergeben wieder die Welt (Universum).
Die Welt wird geteilt in ein System und seine Umwelt:
Welt = System | Umwelt =>
Ein System kann ein Beobachter sein:
Welt = Beobachter | Umwelt =>
Die Welt ist die Summe aus Beobachter und Umwelt:
Welt = Beobachter + Umwelt
Der Beobachter ist weder Objekt noch Subjekt sondern ist eine Differenz!!! Diese Differenz nennt man Leitdifferenz in der Systemtheorie:
Beobachter = Welt – Umwelt
Dies widerläuft dem normalen Empfinden, das wir von einer Welt haben, die aus Subjekten und Objekten besteht. Doch öffnet diese Herangehensweise eine neue Perspektive, wie Nichtwissen verstanden werden kann.
B) Eine Seite einer Unterscheidung wird beobachtet
Unsere Sinnesorgane können nur Unterschiede wahrnehmen. Es bedarf Schalldruckschwankungen, damit wir etwas hören können. Es muss sich etwas farblich voneinander abheben, damit wir es erkennen können. Einen weißen Punkt auf weißem Papier erkennen wir nicht. Einen schwarzen Punkt auf weißem Hintergrund können wir wahrnehmen. Ein Beobachter 1. Ordnung kann diesen schwarzen Punkt sehen und ihn auch irgendwie benennen. Als Beobachter 2. Ordnung kann ich den Beobachter 1. Ordnung beobachten und überlegen, welche Unterscheidung die Voraussetzung war, dass der Beobachter 1. Ordnung den schwarzen Punkt auf dem Blatt Papier sehen konnte.
Das Blatt Papier kann zwischen schwarzen und weißen Bereichen unterschieden werden. Das Blatt Papier ist der Raum, der durch eine Unterscheidung geteilt wurde:
Blatt Papier = Schwarz | Weiß
Der Beobachter 1.Ordnung beobachtet das Schwarz der Unterscheidung von Schwarz | Weiß:
Schwarzer Punkt auf Blatt Papier = Schwarz | Weiß
Beobachter 1. Ordnung ist der, der gerade eine Seite einer Unterscheidung beobachtet, denn ohne Unterschied/Unterscheidung ist keine Beobachtung, keine Wahrnehmung möglich. Ein Beobachter 2. Ordnung kann die verwendeten Unterscheidungen von Beobachter 1. Ordnung thematisieren.
GEDANKENEXPERIMENT*
Nehmen wir an, wir können Wissen beobachten (psychologisches System). Dabei müssen wir die andere Seite der Unterscheidung von Wissen nicht kennen (unmarked space). Als Beobachter 2. Ordnung können wir einfach setzen, vermuten, festlegen, dass die andere Seite der Unterscheidung von Wissen Nichtwissen ist. Man könnte Wissen auch zu Glauben oder Irrtum unterscheiden. Doch ich schlage vor, bei diesem Gedankenexperiment die Welt in Wissen und Nichtwissen zu unterscheiden. Mal sehen, wohin uns das führt:
Welt = Wissen | Nichtwissen => Wissen = Welt – Nichtwissen => Nichtwissen = Welt – Wissen
Sie sind eingeladen die eine oder andere Seite zu beobachten. Jeder macht seine eigenen Beobachtungen. Nun können wir versuchen uns über die jeweils gemachte Beobachtung zu unterhalten und den jeweils anderen aus der Perspektive des Beobachters 2. Ordnung zu reflektieren. Als Beobachter 2. Ordnung würde ich über den Beobachter 1. Ordnung, der nach der Unterscheidung Wissen | Nichtwissen operiert, folgendes sagen: Jeder Beobachter kann aus seiner spezifischen Perspektive sein Wissen beobachten, der Rest ist Nichtwissen. Dann könnte man behaupten, dass das Nichtwissen eines Beobachters um so größer wird, je mehr andere Menschen Wissen aufbauen. Forschung, Wissenschaft und technischer Fortschritt ist dafür verantwortlich, dass Ihr persönliches Nichtwissen wächst oder halten Sie mit all dem neuen Wissen aus Genetik, Energietechnik, Informatik, etc. mit? Ich nicht!
Daraus schließe ich, dass das Wissen eines Beobachters immer kleiner wird, im Verhältnis zu der Menge des Wissens aller anderen über 7 Milliarden Beobachter. Ich könnte versuchen, mir einen Überblick zu verschaffen, was ich alles nicht weiß.
Bei dem letzten Satz wird bereits ein bestimmtes Nichtwissen beobachtet, ohne die andere Seite der Unterscheidung benannt zu haben (Blinder Fleck). Aus der Perspektive des Beobachters 2. Ordnung könnten wir folgende Unterscheidung konstruieren:
Nichtwissen = bekanntes Nichtwissen | unbekanntes Nichtwissen
Nun kann ich die ursprüngliche Unterscheidungsformel um die weitere Unterscheidung von Nichtwissen erweitern:
Bekanntes Nichtwissen = Wissen | (Nichtwissen = bekanntes Nichtwissen | unbekanntes Nichtwissen)
Unbekanntes Nichtwissen = Wissen | (Nichtwissen = bekanntes Nichtwissen | unbekanntes Nichtwissen)
Das unbekannte Nichtwissen (unspezifisches Nichtwissen) ist in diesem Fall nicht beobachtbar. Das bekannte Nichtwissen (spezifisches Nichtwissen) kann thematisiert werden: Ich kann sagen, was ein anderer oder ich nicht weiß.
Das Gedankenexperiment soll aufzeigen, dass Sie, erst wenn Sie sich die Unterscheidung Wissen | Nichtwissen bewusst machen, darüber nachdenken können. Erst wenn Sie sich die Unterscheidung bekanntes Nichtwissen | unbekanntes Nichtwissen bewusst machen, können Sie darüber nachdenken. Sie können so gedacht haben, wie hier geschrieben oder auch anders denken. In dieser Hinsicht sind Sie frei. Beim Beobachten sind Sie gefangen in Ihrem Vorwissen. Basierend auf Ihrer vergangenen Erfahrung (Vorwissen) können Sie bestimmte Sachen beobachten und andere nicht. Mit neuen Unterscheidungen (neues Vorwissen) eröffnen Sie sich einen neuen gedanklichen Raum und werden anders beobachten. Das ist machtvoll, denn durch die bewusste Wahl von Unterscheidung, verändert sich die Welt für den jeweiligen Beobachter. Seitdem das Einstellungsvorspielen hinter einem Vorhang stattfindet, soll beim Orchester der Metropolitan Opera in New York der Frauenanteil des Orchesters um das fünffache gestiegen sein (Malcolm Gladwell). Ein Vorhang kann bewusst die Unterscheidung Mann | Frau ins Nichtwissen überführen. Umgekehrt können zuvor nicht verwendete Unterscheidungen neue Räume der Möglichkeiten eröffnen. Die Umstellung der verbreiteten Beobachtung von Wissen auf die Reflexion der Unterscheidung Wissen | Nichtwissen öffnet den Raum der Möglichkeiten im Umgang mit Gefahren und Chancen, die sich aus der Beobachtung, rein aus der Perspektive des Wissens, nicht ergeben.
Die Systemtheorie von Niklas Luhmann ist auch ein Gedankenexperiment, das auf Unterscheidungen aufbaut. Zugegeben, ein großes Gedankenexperiment, das die Subjekt-Objekt-Dualität überwindet, indem es auf Differenzen und selbstreferenzielle autopoietische Systeme (selbstschaffende Systeme) aufbaut. Auch Luhmann überlässt es dem Betrachter, über den Nutzen der Theorie zu urteilen. Ich möchte den Gedankenraum, den die Theorie mir eröffnet hat, nicht missen. Es hat mich inspiriert, selbstschaffende Systeme mit ihren strukturellen Kopplungen auf die Geschäftswelt zu übertragen. Dies geschieht, indem ich in Rahmenbedingungen denke, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass selbstlernende Systeme entstehen, die unbekannte aber willkommene Lösungen und Produkte hervorzubringen vermögen. Auf diese Weise braucht ein Manager nicht vorab zu wissen, wie sein Produkt geanu aussehen muss, mit dem er sein Glück auf dem Markt versucht, sondern er schafft ein selbstlernendes System, innerhalb dem es eine Überproduktion von möglichen Lösungen gibt. Nicht der Manager entscheidet, welche dieser Lösungen umgesetzt wird, sondern das selbstlernende System selbst übernimmt diese Aufgabe. Auf diese Weise überwindet man die Grenzen von bewusstem und unbewusstem (Vor-)Wissen und öffnet sich so den unendlichen Raum der Möglichkeiten. Das eigene Wissen ist limitiert, doch das Nichtwissen ist unendlich. Warum nicht dieses Potential von selbstlernenden Systemen nutzen?
Der praktische Umgang mit Nichtwissen: Postkonstruktivismus (Andrew Picking, Ian Hacking)
Beim Konstruktivismus wird die Bindung zur “Realität” von Peter Wehling als zu schwach empfunden für eine sinnvolle Praxis im Umgang mit Nichtwissen. Ein Rückfall in einen wissenschaftlichen Realismus der Moderne ist ausgeschlossen. Deshalb kommen Repräsentationen, Erscheinungen, Phänomene nicht “von” einem Gegenstand, sondern werden von jemandem “als” etwas interpretiert. Dabei verschiebt sich das Wissen in Form von Theorien auf die Erzeugung von Wissen in Form von materiellen und diskursiven Praktiken einer Gemeinschaft. Experimente erlauben es, mit Beobachtungsapparaten Erscheinungen einzufangen. Dabei kann eine Gemeinschaft in verschiedene Gruppen zerfallen: Die einen sehen ihre Erklärungs-Modelle bestätigt, die anderen sehen die Notwendigkeit, neue Erklärungs-Modelle suchen zu müssen. Ein Beispiel:
Beim Zusammenprall von Protonen im Teilchenbeschleuniger funktionieren die Messgeräte als Beobachtungsapparate. Die Forschergemeinschaft hat kein gemeinsames Erklärungsmodell, welches sich durch die Daten eindeutig bestätigen lässt. Lag das an den Messgeräten, an den Erklärungsmodellen oder den sprachlichen Barrieren der Forschergemeinschaft? Weitere Tests mit unterschiedlichen Anordnungen sind notwendig, andere Erklärungsmodelle müssen entwickelt werden und es wird noch viele Veröffentlichungen und Tagungen geben.
Wenn man nicht weiß, was man nicht weiß, helfen Experimente, dort wo Annahmen, Beobachtungsapparaturen und Teilnehmer variieren. Ziel dabei ist es, sich selbst zu überraschen und von diesen Überraschungen zu lernen, ohne dabei einen zu hohen Preis zahlen zu müssen.